Schlagwort: Saul K. Padover

»Erbärmliche Mitläufer«

»In all diesen Monaten gab ich die Hoffnung nicht auf, doch noch deutsche Antifaschisten zu finden. Ich wehrte mich gegen den Gedanken, daß es unter den etwa siebzig Millionen Deutschen keinen aktiven Widerstand gegen die schlimmste Tyrannei in der Geschichte der Menschheit gegeben haben sollte. Welch irritierende Vorstellung, daß sich alle Deutschen schuldig gemacht hatten – die einen durch ihre verbrecherischen Taten, die anderen durch Wegschauen.

Solch ein moralischer Sumpf überstieg alle Begriffe. Ich dachte an die Geschichte von Sodom und Gomorrha und fragte mich, ob wir vielleicht eine Neuauflage erlebten. [..]

Wo waren die Gerechten in Deutschland, die Mutigen, die gegen Unrecht und Barbarei ihre Stimme erhoben? In der Vergangenheit hatte es solche Menschen doch gegeben, es war zu Aufständen und revolutionären Erhebungen gekommen. In Deutschland hatte es eine starke Arbeiterbewegung gegeben, die auf den Trümmern des Kaiserreichs eine demokratische Republik errichtet hatte.

Ich wußte, daß vor Hitlers Machtergreifung acht bis neun Millionen Wähler der SPD und fast sechs Millionen der KPD ihre Stimme gegeben hatten. Wo waren all diese Menschen? Sie konnten doch nicht alle umgebracht worden sein. Und wenn sie irgendwo lebten, weshalb hörte man ihre Stimmen nicht, und weshalb war ihr Wille gelähmt? Ich mußte unbedingt eine Antwort auf diese Fragen finden.

Wo ich auch hinkam, suchte ich Hinweise auf Widerstand und erkundigte mich nach Sozialdemokraten und Kommunisten. Doch am Ende fanden weder ich selbst noch andere Leute eine nennenswerte Zahl von Oppositionellen, die offen oder versteckt gegen das Hitlerregime gekämpft hatten, sondern nur erbärmliche Mitläufer. Das allein ist der schlimmste Vorwurf, den man den Deutschen machen kann.«

(Saul K. Padover: Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45, München 2001, S. 243 ff.)