Schlagwort: Totalitarismus

Münchener Freiheit

»In einem klaren Augenblick merkte Winston, dass er genauso brüllte wie die anderen und mit der Ferse heftig gegen sein Stuhlbein schlug. Das Schreckliche an den ZweiMinutenHass war nicht, dass man dabei eine Rolle spielen musste, sondern dass es unmöglich war, nicht mitgerissen zu werden. Spätestens nach dreißig Sekunden war jede gespielte Erregung unnötig.« (*)

Während in Moskau und zahlreichen weiteren russischen Städten Menschen mit Repressionen rechnen müssen, äußern sie sich ablehnend über die Politik »ihres« Präsidenten, feuert die bayerische Landeshauptstadt den Chefdirigenten ihrer Münchner Philharmoniker, weil der sich – trotz öffentlicher Aufforderung dazu – jedes öffentlichen Kommentars zum russischen Krieg gegen die Ukraine enthält.

Weil er sich »trotz meiner Aufforderung, ›sich eindeutig und unmissverständlich von dem brutalen Angriffskrieg zu distanzieren, den Putin gegen die Ukraine und nun insbesondere auch gegen unsere Partnerstadt Kiew führt‹, nicht geäußert« habe, hat der Münchener Oberbürgermeister Dieter Reiter, SPD, den russische Musiker Valery Gergiev als Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker gefeuert.

Und damit auch niemand fragt, welchen Verbrechens sich Valery Gergiev schuldig gemacht hat, gab Katrin Habenschaden, die Zweite Bürgermeisterin der bayerischen Haupstadt, zu Protokoll: »Man kann gar nicht anders, als Gergievs Schweigen als Zustimmung zum Krieg seines Freundes Putin zu verstehen«. In der Tat, Valery Gergiev hat nichts gesagt. Er hat trotz eines erpresserischen Ultimatums geschwiegen.

Valery Gergiev hat den russischen Krieg gegen die Ukraine nicht begrüßt, er hat ihn nicht verurteilt, er hat keine Meinung dazu geäußert, sich enthalten. Für Katrin Habenschaden reicht das, ihm die Unterstützung Wladimir Putins zu unterstellen, für Dieter Reiter, dem nunmehr Ex-Chefdirigenten zu kündigen. Die Münchener Freiheit ist etwas, vor dessen Vorbildwirkung Wladimir Putin et al. sich fürchten sollten.

(*) George Orwell: 1984, München 2021.

Angriff auf die Freiheit

Die Europäische Union plant als Teil einer ganzen Reihe von Reaktionen auf den Einmarsch Moskaus in die Ukraine ein Verbot »russischer Staatsmedien«. Man entwickle, hieß es am Wochenende aus Brüssel, Schritte, die »Medienmaschinerie des Kremls [sic!]« in der EU zum Verstummen zu bringen, die mit ihren »giftige[n] und schädliche[n] Desinformation [..] Streit in der Union zu säen« versuchen sollen.

Das von Ursula von der Leyen, der Präsidentin der Europäischen Kommission, als »beispiellos« gelobte Verbot von Angeboten wie RT oder Sputnik sollte binnen kurzer Zeit wirksam werden. Während die »Medienmaschinerie des Kremls« gegenwärtig noch problemlos in verschiedenen Sprachen erreichbar ist, was man durchaus bedauern kann, müssen solche Verbotsforderungen doch erschrecken.

Die im März 2010 im Amtsblatt der EU veröffentlichte »Charta der Grundrechte der Europäischen Union« sichert in ihrem Artikel 11 »jede[r] Person« ein »Recht auf freie Meinungsäußerung« zu, das »die Meinungsfreiheit und die Freiheit [..], Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben« ganz ausdrücklich einschließt.

Man mag sich darüber aufregen, daß der Kreml seinen Einmarsch in die Ukraine als deren »Entnazifizierung« rechtfertigt – nicht weniger geschmacklos ist es freilich, den russischen Präsidenten Wladimir Putin mit Adolf Hitler gleichzusetzen, wie das ein Twitter-Kanal Kiews tut, mündigen Bürgern den Zugang selbst zu solchen Zeugnissen des Wahnsinns vorenthalten zu wollen, zeugt von totalitärem Denken.

Ein behördlich kuratiertes Medienangebot hat mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung, wie es die EU-Grundrechtecharta beschreibt, wenig zu tun. Desinformationen und Propaganda sind lästige Plagen, ein von behördlichen Wahrheitshütern gepflegtes Medienangebot wäre die schlimmere Plage und alles andere als frei. Mit ihren Verbotsplänen diskreditiert die EU sich selbst und verrät ihre angeblichen Werte.