Schlagwort: SPD

Denunzianten

Das Auswärtige Amt zu Berlin hat sich einer Erklärung der Außenministerien Frankreichs, Italiens und Spaniens angeschlossen, mit der sie ihre Besorgnis über »anhaltende Spannungen in den besetzten palästinensischen Gebieten einschließlich Ostjerusalem« kundtun wollen. Man sei ob der Situation »außerordentlich alarmiert« und rufe daher »alle Parteien« auf, »Spannungen aktiv abzubauen und die Ruhe wiederherzustellen«.

Hatte Annalena Baerbocks Vorgänger im Amt des Außenministers angekündigt, Deutschland wolle sich auf der internationalen Bühne gegen die dort übliche ausgrenzende und unfaire Behandlung Israels einsetzen, ist die aktuelle Erklärung der vier mitteleuropäischen Außenministerien ein Beleg dafür, daß der Befund zwar nach wie vor gültig ist, den Worten Heiko Maas’ entsprechende Taten aber ebenfalls noch ausstehen.

Selbst wenn sich die Diplomaten diesen Eindruck erwecken wollen, gelingt es ihnen nicht, als unbeteiligte und daher äquidistante Dritte zu überzeugen. Ist bereits ihr indifferenter body count dreist, stellt er doch Opfer »palästinensischen« Terrors gleich mit getöteten und verletzten Terroristen, ist die Formulierung »alle Parteien« beleidigend, stellt auch sie Sicherheitskräfte eines Staates und gesetzlose Terroristen auf eine Stufe.

Ihre Maske lassen Berlin und Paris, Rom und Madrid aber fallen, wenn sie zwar einräumen, daß Israel »das Recht« habe, »sich gegen bewaffnete Angriffe zu verteidigen und die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen«, dann allerdings völlig belegfrei und damit vorverurteilend folgen lassen, »dies« müsse »jedoch unter Achtung der Prinzipien des Völkerrechts und des humanitären Völkerrechts geschehen«.

Können die hier doch so entlarvend offenen Europäer sich zugleich nicht dazu durchringen, »palästinensischen« Terrorismus auch als solchen zu benennen, beseitigt ihre ausdrückliche und stigmatisierende Erwähnung von »Siedlern«, von denen Gewalt ausgehe, alle Zweifel daran, wo Deutschland und Frankreich, Italien und Spanien oder ihre Außenministerien stehen. Die Seite des Staates Israel jedenfalls ist es gewiß nicht.

Vertrauensbeweis

Als Deutschland im Oktober 2019 für die Jahre 2020 bis 2022 in den »Menschenrechtsrat« der Vereinten Nationen (UNHRC) gewählt wurde, lobte das seinerzeit von Heiko Maas geführte Auswärtige Amt in Berlin das in Genf tagende Gremium als »die zentrale Institution, die sich weltweit für Schutz und Weiterentwicklung der Menschenrechte engagiert«, und der Minister selbst freute sich über einen »Vertrauensbeweis«.

Zu den bleibenden Leistungen dieser famosen Organisation gehört die Einsetzung einer »Unabhängigen internationalen Untersuchungskommission zu den besetzten palästinensischen Gebieten, einschließlich Ost-Jerusalem, und Israel (CoI)« im Mai 2021. In diesen Tagen macht die von der einschlägig berüchtigten Navanethem »Navi« Pillay geleitete CoI mit einem »Bericht« die einmal mehr erwartbaren Schlagzeilen.

Damit beauftragt, den Konflikt zwischen der in Gaza herrschenden islamistischen Hamas und den israelischen Streitkräften im April 2021 sowie die Umstände, die zu ihm geführt haben könnten, zu untersuchen, kommt die dreiköpfige Kommission zu dem wenig überraschenden Schluß, daß »die illegale Besatzung« angeblich »palästinensischer Gebiete« durch Israel der nahezu alleinige Grund für die Auseinandersetzungen sei.

Beauftragt ein sich obsessiv mit dem jüdischen Staat beschäftigendes UN-Gremium bewährte Antisemiten mit einer »unabhängigen« Untersuchung »israelischer Verbrechen«, kann nichts anderes herauskommen als ein antisemitisches Pamphlet, das sich nicht einmal bemüht, den Schein zu wahren: Worte wie »Terrorismus« sucht man in dem »Bericht« so vergeblich wie Erwähnungen der mit Teheran verbündeten Hamas.

Anfang Oktober wurde Deutschland erneut zum Mitglied des »Menschenrechtsrats« der Vereinten Nationen gewählt. Nach dem Ende der laufenden Mitgliedschaft folgt damit ein weiteres dreijähriges Engagement Berlins in dem Gremium, das Heiko Maas’ Nachfolgerin als »das zentrale Forum der Vereinten Nationen für Menschenrechte« ansieht. Mit gewohnter Konsequenz bekämpft Berlin weiter jede Form von Antisemitismus.

Kulturgut

Die Tageszeitung Die Welt veröffentlichte vor einigen Tagen auf ihrer Website eine E-Mail, die tiefe Einblicke in das Denken der Führung einer direkt beim deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz angesiedelten »obersten Bundesbehörde mit rund 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern« erlaubt. Das »so von StM’in gebilligt[e]« Dokument zeigt, wie Antisemitismus in deutschen Regierungskreisen verharmlost wird.

Formuliert hat die Nachricht an verschiedene Beteiligte der damals noch nicht eröffneten documenta fifteen Andreas Görgen, Ministerialdirektor bei Staatsministerin (»Stm’in«) Claudia Roth, der sogenannten Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, um Gespräche mit ihnen über Antisemitismusvorwürfe gegen die durch Mittel des Bundes erst ermöglichte »Kunstausstellung« in Kassel vorzubereiten.

Ist es noch kein Menschenalter her, daß Antisemitismus, deutscher Antisemitismus zur Auslöschung nahezu der gesamten jüdischen Population Europas führte, wird der Haß auf Juden und den jüdischen Staat in dem »so von StM’in gebilligt[en]« Schreiben als eine bloße Frage von Meinungs- oder Kunstfreiheit erörtert, die es – ausgerechnet unter Berufung auf den Nationalsozialismus – zu wahren und zu verteidigen gelte.

»Die Träger und Förderer der documenta könnten«, empfiehlt Andreas Görgen da in nicht eben unfallfreiem Deutsch, »unterstreichen, dass die documenta als Kunst-Ausstellung unter dem Schutz des GG und einen internationalen Raum der Kunst in Deutschland schafft. Diese Tradition der documenta, gerade in einem Land, das sich wie kein anderes an der Freiheit der Kunst vergangen hat, soll die documenta fortsetzen«.

Diese beiden Sätze, die exemplarisch stehen für den Tonfall des gesamten Dokuments, sind entlarvend: Sie zeigen, daß im Bundeskanzleramt Antisemitismus nicht als der mörderische Haß gilt, der er ist, sondern als – schlimmstenfalls wohl lästige – Meinung – und als solche vor staatlichen und sonstigen Eingriffen zu beschützen sei. Der Mord an 6 Millionen Juden war danach wohl nur ein unangenehmer Diskussionsbeitrag.

Das auf den 17. Januar 2022 datierte Schreiben hatte für Andreas Görgen so wenig negative Folgen wie für dessen Vorgesetzte, StM’in Claudia Roth. Die documenta fifteen konnte, obgleich »der Antisemitismus bei dieser documenta von Anfang an strukturell angelegt war«, wie der Zentralrat der Juden in Deutschland analysierte, so lange stattfinden wie geplant. In Deutschland steht Antisemitismus unter dem Schutz des GG.

Späte Erkenntnis

Während die Proteste gegen das islamistische Regime in Teheran ebenso anhalten wie dessen brutalen Versuche, das Aufbegehren zu ersticken, mehren sich in Deutschland Stimmen, die für ein Ende der Gespräche mit Teheran über eine Wiederbelebung des Joint Comprehensive Plan of Action plädieren. Zuletzt meinte die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, es sei Zeit für ein Zeichen: »Bis hierhin und nicht weiter«.

Die Erkenntnis kommt zwar mindestens sieben Jahre zu spät, richtig war und bleibt sie dennoch. Das zeigt nicht zuletzt die Dürftigkeit des »Gegenarguments«, das Parteifreund Nils Schmid vortrug, der der Partei den »außenpolitischen Sprecher« macht: Saskia Eskens Vorschlag »›hat mit verantwortungsvoller Außenpolitik nichts zu tun‹. Der Iran würde mit Atombomben Israel und die regionale Stabilität bedrohen.«

So dumm, zu glauben, Teheran könne durch ein Abkommen von seinem Streben nach Kernwaffen abgehalten werden, war nicht einmal Präsident Barack Hussein Obama: Für den war klar, daß man mit dem JCPOA günstigenfalls Zeit kaufe. Und er hoffte auf bessere Informationen über das iranische Kernwaffenprogramm. Die liegen heute teils vor, das klerikale Regime verweigert derweil weiter wichtige Informationen.

Vor acht Jahren – ohne JCPOA, allerdings mit vergleichsweise harten internationalen Sanktionen gegen Teheran – waren die Mullahs weiter davon entfernt, ihre Islamische Republik zur Atommacht zu aufsteigen zu lassen als heute, sieben Jahre nach Unterzeichnung des Abkommens. Nach Angaben der IAEA verfügen sie heute über mehr angereichertes Uran als je zuvor, das sie jederzeit waffenfähig machen können.

Die Behauptung, ein Scheitern der Wiener Verhandlungen mit Teheran würde die Situation wesentlich zuspitzen, ist daher ein Scheinargument. Die Realitätsverweigerung des Westens – und hier insbesondere der »E3« – und seine Weigerung, auf Vertragsverstöße des islamistischen Regimes mit mehr zu antworten als mit Gemeinsamen Erklärungen, haben den JCPOA noch schwächer gemacht als er ohnehin konstruiert war.

Die Islamische Republik Iran steht heute an der Schwelle zur Atommacht. Deshalb wird die Zeit, etwas dagegen zu tun, in der Tat knapp. Verhandlungen mit den Islamisten würden deren gründlich diskreditiertes Regime aufwerten, sie aber gewiß nicht davon abbringen, sich alle atomaren Optionen zu erhalten. Das können – vielleicht – internationale Sanktionen oder auch militärische Maßnahmen, sollten die nötig werden.

Davor schrecken Beschwichtiger wie Nils Schmid freilich zurück. Andererseits gilt »Kriegsmüdigkeit« in deutschen Regierungskreisen durchaus schon als ein Schimpfwort – jedenfalls im Zusammenhang mit dem, was Deutschland als Solidarität mit der Ukraine bezeichnet. Waffen und ihr Einsatz können Probleme lösen. Gilt das für die Ukraine, weshalb sollte es mit Blick auf das iranische Atomprogramm nicht gelten?

Saskia Eskens außenpolitische Kompetenzen sollte man nicht überschätzen. Nils Schmid hat seine derweil an der Seite eines sozialdemokratischen Außenministers erworben, der 2018 erklären zu können glaubte, »es gibt keine Abhängigkeit Deutschlands von Russland, schon gar nicht in Energiefragen«. Seinerzeit war Donald J. Trump Präsident in Washington und erdreistete sich, das Gegenteil zu behaupten.

Verweigerung von Verantwortung

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat seine erste Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York gehalten. Wie sein Kanzleramt mitteilt, warb der Sozialdemokrat bei seinem Auftritt auch für eine Reform des Sicherheitsrats der Weltorganisation, der sich »an die Realität des 21. Jahrhunderts anpassen« müsse, und einen ständigen deutschen Sitz in im bedeutendsten UN-Gremium.

Berlin sei, wie es das Kanzleramt formuliert, »bereit, größere Verantwortung zu übernehmen«. Was auf dem Papier überzeugend klingen mag, müßte sich freilich erst noch in der »Realität des 21. Jahrhunderts« spiegeln. Ist Deutschland tatsächlich bereit, eine Führungsrolle zu übernehmen? Eine der größten Gefahren für den Weltfrieden geht gewiß nicht erst seit gestern von der Islamischen Republik Iran aus.

Mit dem im Sommer 2015 vorgestellten Joint Comprehensive Plan of Action, zu dessen »Architekten« der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier gehört, sollte das Kernwaffenprogramm des Regimes in Teheran in der Theorie beendet werden. Tatsächlich ist es mit dem Abkommen günstigenfalls gelungen, die atomare Aufrüstung der Islamischen Republik geringfügig zu verlangsamen.

Dazu, daß das Mullah-Regime heute nur noch kurz davor steht, zu einer atomar bewaffneten Hegemonialmacht aufzusteigen, hat auch Deutschland als Teil der »E3«, der drei europäischen Vertragsstaaten, beigetragen: War Berlin unter Kanzlerin Angela Merkel nicht gewillt, das Instrumentarium des Abkommens gegen Teherans Vertragsverletzungen einzusetzen, zeigt es bis heute keine entsprechenden Ambitionen.

Dabei wäre es – so wurde der »Snap back«-Mechanismus des JCPOA jedenfalls beworben – sogar vergleichsweise einfach, den diplomatischen und wirtschaftlichen Druck der Weltgemeinschaft auf das islamistische Regime zu erhöhen. Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen genügte ein einziges Votum, das der Verlängerung der Aussetzung internationaler Sanktionen nicht zustimmt, um diese zu reaktivieren.

Es müßte keine Mehrheit in dem Gremium organisiert werden, nur ein einziger der ursprünglichen Vertragsstaaten könnte mit seiner ablehnenden Stimme Sanktionen reaktivieren, deren Aussetzung an ein vertragsgemäßes Verhalten Teherans geknüpft wurde. »Die Sanktionen«, schrieb Frank-Walter Steinmeier seinerzeit, könnten so »im Fall eines Bruchs der Vereinbarung durch Iran sofort« wiederbelebt werden.

Der Respekt vor dem Vertrag, der als Resolution 2231 des UN-Sicherheitsrats zu Völkerrecht wurde, sollte es gebieten, gegen dessen Verletzungen vorzugehen. Doch auch Deutschland war und ist dazu nicht bereit, so daß Teheran ungehindert Uran bis auf waffenfähige Reinheitsgrade anreichern und die Weltgemeinschaft verhöhnen kann. Berlin könnte hier »Verantwortung übernehmen« – verweigert sie aber.

Absage

Während das islamistische Regime in Teheran sein Atomprogramm, wie Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) nahelegen, weiter ausbaut und beschleunigt vorantreibt, hat der israelische Premier Yair Lapid bei seinem Deutschlandbesuch am Wochenanfang vergeblich versucht, Kanzler Olaf Scholz von einem entschlosseneren Vorgehen gegen die Islamische Republik Iran zu überzeugen.

Zwar sagte der Sozialdemokrat nach dem Treffen mit seinem Gast aus Jerusalem, »wir sind uns alle völlig einig, dass es darum geht, dass der Iran keine Atombomben bekommt und dass er auch nicht die Raketen besitzt, um sie zu transportieren«, wollte aber – trotzdem er Angaben der Deutschen Welle zufolge, »die Zukunft des Iran-Atomabkommens skeptisch« bewerte – den JCPOA nicht für gescheitert erklären.

Seit Anfang August liegt eine von den Europäern formulierte »endgültige« Schlußerklärung für die »beendeten« Wiener Verhandlungen über das Abkommen vor, das Mullah-Regime lehnt es aber ab, seine Unterschrift zuzusagen. Mit neuerlichen Forderungen an die Regierung in Washington führten die Mullahs vor allem die »E3« vor, die sich bereits nur noch »Tage« vor einem »diplomatischen Erfolg« wähnten.

Und trotzdem sie so auch und gerade Berlin düpierten und selbst der dortige Regierungschef inzwischen durchaus erkennt, daß ein irgendwie »erfolgreiches« Ende der Gespräche über den JCPOA nicht in der näheren Zukunft zu erwarten ist, will Olaf Scholz nicht eingestehen, was gar nicht mehr zu leugnen ist: War der Joint Comprehensive Plan of Action vielleicht einmal gut gemeint, ist er längst gescheitert.

Mit seiner Weigerung, dieses Scheitern einzuräumen, das auch darin zum Ausdruck kommt, daß die »E3«, zu denen Deutschland gehört, gar nicht daran denken, das im JCPOA vorgesehene Instrumentarium gegen Teheran einzusetzen, versucht Olaf Scholz, Zeit zu gewinnen, die es vor dem Hintergrund der Fortschritte des iranischen Kernwaffenprogramms nicht gibt. Seine Erklärung ist nichts als leeres Geschwätz.

Es ist in letzter Konsequenz eine Absage an Israel, aber auch an andere Staaten in der Region, gegen die Teheran schon jetzt an vielen Fronten Krieg führt. Der JCPOA ist gescheitert, die Verhandlungen von Wien sind »beendet«. Derweil jedoch macht das iranische Kernwaffenprogramm weitere Fortschritte. Vor diesem Hintergrund ist die bloße Feststellung von Einigkeit darüber, daß das nicht sein sollte, ein Affront.

Wahre Verzweiflung

Der SPIEGEL hat am Dienstag ein Interview mit dem SPD-Politiker Helge Lindh veröffentlicht, in dem es um die in Kassel verantstaltete documenta fifteen geht. Die angebliche »Kunstausstellung« ist trotz immer wieder erneuerter Antisemitismusvorwürfe, die zuletzt durch Mitglieder des Gremiums zur fachwissenschaftlichen Begleitung der Veranstaltung untermauert wurden, noch immer öffentlich zugänglich.

»Wir«, gibt Helge Lindh sich am Ende des Interviews irgendwie selbstkritisch, »müssen uns alle fragen, warum wir nicht früher reagiert und Maßnahmen ergriffen haben«. Versteckt ein Politiker sich hinter Begriffen wie »wir alle«, ist das freilich nicht selten tatsächlich der Versuch, sich tatsächlicher Verantwortung zu entziehen. Wenn »wir alle uns« etwas »fragen« müssen, ist Fehlverhalten nicht mehr individuell zuordenbar.

Und so kann es auch kaum verwundern, daß Helge Lindh, der das Interview vor dessen Veröffentlichung gewiß erst hat freigeben müssen, gar nicht auffiel, wie sehr er sich mit dieser speziellen Art der »Selbstkritik« im Zusammenhang mit einer früheren Aussage im Interview bloßstellt. »Haben Sie mal ein ernste [sic!] Wort« mit dem documenta-Aufsichtsrat Christian Geselle »geredet?« wird er da etwa gefragt.

»Nein, das habe ich nicht«, antwortet der Sozialdemokrat, um auf Nachfrage (»Warum nicht?«) zu erwidern: »Ich halte nichts davon, die Verantwortlichen vor Ort aus Berlin zu belehren.« In Berlin ist der Sozialdemokrat als Abgeordneter im Deutschen Bundestag Mitglied mehrerer Ausschüsse, darunter der für Kultur und Medien. Warum also hat der Kulturpolitiker »nicht früher reagiert und Maßnahmen ergriffen«?

Da werden auf einer mit Bundesmitteln überhaupt erst ermöglichten Veranstaltung, die eine der »weltweit bedeutendsten Ausstellungen für zeitgenössische Kunst« sein will, antisemitische Schmierereien gezeigt und Terror gegen Juden glorifiziert. Doch MdB Helge Lindh, der damit bestimmt nichts zu tun haben will, kann, leider, leider, gar nichts machen, weil er »nichts davon« hält, »die Verantwortlichen vor Ort aus Berlin zu belehren«.

Aber Helge Lindh fühlt sich dennoch ernsthaft berufen, »uns alle« – und nicht etwa zunächst einmal sich selbst – fragen zu dürfen, »warum wir nicht früher reagiert und Maßnahmen ergriffen haben«. Antisemitismus ist wohl ein Entfernungsproblem. »Ich schätze die Vorgänge anders ein als Christian Geselle«, doch zwischen Berlin und Kassel liegen nun einmal mindestens 300 Kilometer. Und das ist einfach nicht zu ändern.

Staatsschauspiel

Am Montag ist es fünf Jahrzehnte her, daß Terroristen des »palästinensischen« Schwarzen September die in der bayerischen Landeshauptstadt München ausgetragenen Spiele der XX. Olympiade überfielen und die Mitglieder der israelischen Mannschaft als Geiseln nahmen, grausam folterten und – während eines den deutschen Sicherheitskräften gründlich mißlingenden »Befreiungsversuchs« – schließlich ermordeten.

Doch damit nicht genug: Bis heute zeigt sich Berlin äußerst zugeknöpft, wenn es um eine Aufklärung des damaligen Versagens und der deutschen Politik gegenüber den »Palästinensern« danach geht, davon, gegenüber den Angehörigen der ermordeten Sportler Verantwortung zu zeigen, ganz zu schweigen. Lange Zeit drohte deshalb das geplante Gedenken in München und Fürstenfeldbruck in einer Farce zu enden.

Mit einer in beinahe letzter Minute zwischen den Hinterbliebenen der Opfer und Berlin erzielten Einigung auf eine gemeinsame Aufarbeitung und »Entschädigungszahlungen« konnte in dieser Woche ein Gedenken ohne israelische Teilnehmer abgewendet werden, eine Farce bleibt es freilich dennoch. Und es ist bedauerlich, daß sich auch das israelische Staatsoberhaupt Isaac Herzog dafür einspannen lassen will.

Denn den Deutschen fällt nichts besseres ein, als ausgerechnet ihren Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zu den Gedenkfeiern zu schicken, wo er einen Kranz niederlegen und auch noch eine Rede halten soll, der gleiche Frank-Walter Steinmeier, der am 9. Mai 2017 einen Kranz am Grab des »palästinensischen« Terroristenführers Yassir Arafats hinterließ, zu dessen PLO der Schwarze September gehörte.

Hinterher darauf angesprochen, daß er damit doch »viele Israelis, aber auch viele Juden hier [..] verstört« habe, bedauerte Frank-Walter Steinmeier seine Verbeugung vor dem Terroristenführer auch nicht etwa, sondern verwies lediglich auf ein »palästinensische[s] Protokoll«, dem sich andere Staatsoberhäupter, darunter selbst ein Donald Trump, aber auch dessen Nachfolger Joe Biden, derweil immer wieder entziehen.

Dem antisemitischen Regime in Teheran schickte der Sozialdemokrat Glückwünsche zum Jubiläum seiner »Revolution«, weil man das schon immer so gemacht habe, Yassir Arafat ehrte er, weil er nicht gegen das »Protokoll« verstoßen mochte, aber wenn Frank-Walter Steinmeier einen Kranz niederlegt für die Opfer des Schwarzen September, ihrer in einer Rede »gedenkt«, soll das mehr sein als nur ein weiteres Ritual?

Lupenreine Demokratin

Annalena Baerbock, sie fungiert als deutsche Außenministerin, hat sich im Rahmen einer Podiumsdiskussion in Prag nach übereinstimmenden Berichten dazu geäußert, wem ihre Loyalität gilt: »Ich werde die Ukraine an die erste Stelle setzen, egal was meine deutschen Wähler denken oder ob sie demonstrieren«, werden ihre englischsprachigen Aussagen etwa auf Twitter übersetzt und zusammengefaßt.

Die Tageszeitung Die Welt gibt die von der Partei Bündnis 90/Die Grünen ins Kabinett Olaf Scholz’ geschickte Politikerin auf ihrer Website etwas ausführlicher, inhaltlich aber durchaus gleichlautend wieder: »Wenn ich den Menschen in der Ukraine das Versprechen gebe: ›Wir stehen an eurer Seite, solange ihr uns braucht‹, dann werde ich diese Versprechen einhalten. Egal, was die deutschen Wähler denken«.

Es gibt gute Grüne, die Ukraine und die ukrainische Bevölkerung gegen die russischen Versuche zu unterstützen, das Land zu »entnazifizieren« und als Staat auszulöschen. Gleichwohl zeugt es nicht eben von politischer Klugheit, sich als deutsche Außenministerin einfach mal bedingungslos »den Menschen in der Ukraine« zu unterwerfen, zumal auch und gerade dieses Kollektiv wohl eher ein imaginäres ist.

Sagt die deutsche Ministerin sich und die Regierung, der sie angehört, prophylaktisch vom deutschen Souverän los, offenbart sie sich als ziemlich lupenreine Demokratin. Dabei sind es doch »unsere gemeinsamen weltweiten Werte, die in der Ukraine auf dem Spiel stehen«, darunter »das Recht von Bürgerinnen und Bürgern, egal wo auf dieser Welt, den Weg für sich selbst, für ihr Land selbst zu bestimmen«.

Wie können »die deutschen Wähler« im Gegensatz zu »den Menschen in der Ukraine« nicht zu dieser »weltweiten Gemeinsamkeit« gehören? Und, sollten sie tatsächlich einen eigenen, einen »deutschen Weg« gehen wollen, was gewiß keine Premiere wäre, weshalb sollte ihre Regierung sich dann nicht verpflichtet fühlen, dieses »Recht«, »den Weg für sich selbst, für ihr Land selbst zu bestimmen«, umzusetzen?

Die arrogant-autoritäre Haltung Annalena Baerbocks ist ein Affront, den ein Bundeskanzler, hätte er Rückgrat und so etwas wie ein Gewissen, nur mit einer Entlassung beantworten könnte, zumal die deutsche Ukraine-Politik, wie andere europäische Demokratien zeigen, nicht alternativlos ist. Annalena Baerbock kann argumentativ nicht überzeugen, also beschimpft sie »die deutschen Wähler«. Sie ist damit unhaltbar.

Nachtrag: Nachdem gesagt wurde, was gesagt wurde, soll es sich bei Annalena Baerbocks zitierten Äußerungen um »Desinformation von der Stange« handeln, für die ihr Auswärtiges Amt, das sich einen Beauftragten hält für strategische Kommunikation, ein »sinnentstellend zusammengeschnittenes Video, geboostert von prorussischen Accounts« verantwortlich macht.

Scholzidee

Der deutsche Kanzler Olaf Scholz hat in einer »Europapolitischen Grundsatzrede« an der Univerzita Karlova in der tschechischen Hauptstadt Prag für eine Politik geworben, mit der er, wie ihm seine Redenschreiber aufnotierten, Europa »weltpolitikfähig« machen will. Was er als Lehre aus der von ihm so bezeichneten »Zeitenwende« verkaufen wollte, ist freilich eine Forderung, für die er schon länger wirbt.

Mit der Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip und der Einführung von Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik soll danach die Europäische Union »an Souveränität« gewinnen, wie er im Mai 2021 formulierte. Mit dem Festhalten am Einstimmigkeitsprinzig drohe der EU dagegen eine »weltpolitische Bedeutungslosigkeit«, die dem »einzigartige[n] Friedens- und Wohlstandsprojekt« überhaupt nicht stehe.

Vor dem Hintergrund einer anderen Zeitenwende, einer vom Hausherrn (zunächst) unwidersprochen bleibenden antisemitischen Entgleisung eines Gasts im Amtssitz Olaf Scholz’, ist das Beispiel interessant, mit dem der Regierungschef 2021 für seine Idee warb: »Der EU-Außenbeauftragte« war damals daran gehindert worden, »für Europa mit einer Stimme zum wieder aufgeflammten Nahost-Konflikt zu sprechen«.

Ungarn hatte mit seinem Veto, eine »auch an Israel gerichtete Aufforderungen zu einem ›sofortigen Stopp aller Gewalt‹ und der ›Umsetzung einer Waffenruhe‹« in den vom 10. bis zum 21. Mai anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen den Streitkräften des jüdischen Staates und der in Gaza herrschenden islamistischen Terrororganisation Hamas verhindert, wie exemplarisch die tagesschau seinerzeit beklagte.

Ausgerechnet Budapest verhinderte also, daß die Europäische Union die militärische Selbstverteidigung der einzigen funktionierenden Demokratie im Nahen Osten gegen islamistischen Raketenterror aus Gaza in einer offiziellen Stellungnahme mit eben diesem auf eine Stufe stellt. Und ausgerechnet das beschwerte offenbar Olaf Scholz’ Gewissen so sehr, daß er an Europas »Weltpolitikfähigkeit« zweifelte.

Die laut tagesschau »strikt loyale« Haltung des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán »zur israelischen Regierung und persönlich zu [inzwischen Ex-] Regierungschef Benjamin Netanyahu« verhinderte tatsächlich die weitere Selbstdemontage der EU. Es ist bedauerlich, daß es dafür eines Viktor Orbáns bedurfte. Und es ist bezeichnend, daß gerade er damit zeigte, weshalb Olaf Scholz’ Idee keine gute ist.